Annette Kolb

Aus Kapitel 2: Das besondere Exemplar
– Leseprobe –

Sanary im April 1933

Nun gehöre ich dazu.

Es war Anfang März. Vor dem Spiegel sitzend cremte ich mein Gesicht ein. Da hörte ich Hitler eine Rede im Radio halten. Ich sah meine Falten auf der Stirn und um die Augen, sah die schlaffe Haut am Hals. Hitler sprach mit harten rollenden Rs von deutschen Kamerrrraden und kläffte wie der Hund meiner Nachbarin. Wütend drehte ich das Radio aus. Wenn du dir morgen noch in dein altes Gesicht sehen willst, dachte ich, dann verlasse dieses Land der Jasager und Spitzel. Am nächsten Morgen holte ich meine Ersparnisse von der Bank. Viel war es nicht. Dann fuhr ich mit dem Zug über Luxemburg nach Toulon. Dort holte mein Freund René Schickele mich ab und trug meinen einzigen Koffer. Ein paar Tage blieb ich in seinem Haus oberhalb von Sanary, genoss die Aussicht und erfreute mich an mir unbekannten, mediterranen Pflanzen im Garten.

Nun sitze ich auf einer Bank am Hafen und stricke. Ich – mit meinen zwei linken Händen. Die hatte ich schon vor fünfzig Jahren als junges Mädchen. Das Gräuel mit dem Knäuel. Schickeles Frau hat viel gestrickt, zwei rechts, zwei links, für ihre beiden Jungen. Sie meint, stricken beruhigt und geht wie von selbst. Zwei rechts, zwei links. Werden wieder Soldaten marschieren, rechts vom Rhein und links vom Rhein in Zweierreihen. Rive gauche et rive droite. Ein Pullover wird’s bestimmt nicht, höchstens ein schmaler Schal. Ob man den hier im Winter braucht?

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