Franz Werfel

Aus Kapitel 32: Der Dichter auf dem Kreuzweg
– Leseprobe –

Beim Lesen dieser Zeilen sehe ich immer eine Tüte Tomaten, die ihm aus der Hand fällt. Die Tomaten platzen beim Aufprall auf das Pflaster. Auch die Lippe von Franz Werfel sehe ich auf­geplatzt und einen Knopf, der von seinem Mantel springt. Die Menge johlt und schubst ihn, bis er hinfällt. Die Gendarmen sind längst weiter gegangen. Jemand spuckt ihn an. Ein Unrecht wie es täglich geschieht, damals wie heute, überall auf der Welt. Die feige Mehrheit fühlt sich stark einem wehrlosen Opfer gegen­über.

Ich weiß, welchen Weg Franz Werfel genommen hat, um nach Hause zu kommen. Zum Glück kann er noch laufen. Aber sein Knie schmerzt und das Handgelenk auch. Doch die Wut ist das Schlimmste. Und die Demütigung. Er zieht den zerrissenen Man­tel aus und nimmt ihn über den Arm. Es geht bergauf. Gleich kommen die Treppen. Es ist nicht mehr weit. Ich bräuchte fünf Minuten, wenn ich nicht stehen bliebe, um die Aussicht auf den Hafen zu genießen. Werfel braucht bestimmt eine Viertelstunde. Er muss verschnaufen, sein Herz klopft heftiger als sonst. Ich bin diesen Weg schon oft gegangen, den Chemin de la Chapelle, den alten Kreuzweg mit den 12 Stationen, der die Kirche im Ort mit der Kapelle auf dem Hügel verbindet, doch plötzlich sehe ich ihn mit neuen Augen. Der Leidensweg Jesu und der Heim­weg von Franz Werfel, sie sind ein und dasselbe. Hier schleppte sich der humpelnde Dichter hoch. Nun war es sein Leidensweg. Verraten und verkauft fühlt er sich. Erst von den Nazis, und jetzt auch von den Franzosen. Das drückt wie Dornen in der Haut. Zur ewigen Wanderschaft verdammt ist der Jude. Sein Kreuz muss er tragen – oder einen bespuckten Mantel.

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