Aus Kapitel 46: Die Narbe auf der Wange
– Leseproben –
Beobachtungen eines Passfälschers, Marseille im Februar 1941
Irgendwann landen sie alle bei mir. Weil alle raus wollen aus der Falle. Ganz Marseille ist eine Mausefalle. Der Speck, der die Flüchtlinge anlockt, sind die Schiffe nach Übersee. Oder die Hoffnung darauf. Je besser die Papiere, desto größer die Chance, nicht geschnappt zu werden. Polizeikontrollen sind an der Tagesordnung. Im Hotel, auf der Straße. In den Cafés lauern Gestapospitzel hinter Zeitungen und kritzeln ihre Listen voll. Überall stehen Schlangen von Menschen. Mit Kindern oder mit Hut, mit hängenden Schultern oder mit Freundin, in schäbigen Schuhen oder anderen Umständen. Kleider machen Leute.
Pässe kann man fälschen. Das ist mein Metier. Aus Hans wird Jean, aus Juden werden Christen. Ganz wie‘s beliebt. Sogar das Geschlecht hab ich schon verändert. Es spricht sich ‘rum, dass ich gut bin. Wer Qualität will, kommt zu mir – und wer sie sich leisten kann. Seit die Boches in Paris sind, ist der Flüchtlingsstrom in den unbesetzten Süden stärker als die Rhone. Da werden sie angeschwemmt in meine Werkstatt und bitten und betteln. Jeder hat etwas Wichtiges verloren, die Mutter, ein Bein, den Beruf, die Selbstachtung. Manche tun mir leid. Denen helfe ich gern, die andern müssen bezahlen. Ich unterscheide zwischen Charaktergesicht und Allerweltsgesicht. Letzteres passt sich dem Pass an. Stempeln. Fertig ist der neue Mensch. Wer eine Persönlichkeit ist, macht es mir schwer. So einer war gestern hier. Mit einer Narbe auf der Wange.